Lateinamerika: Oligarchien und Militärdiktaturen ab 1929

Lateinamerika: Oligarchien und Militärdiktaturen ab 1929
Lateinamerika: Oligarchien und Militärdiktaturen ab 1929
 
Eine »Stunde null«, in der einen oder anderen Weise zutreffend für die vom Zweiten Weltkrieg betroffenen Staaten Europas, hat es 1945 in keiner der Teilregionen Lateinamerikas gegeben. Das epochale Ereignis in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts war in diesem Großraum vielmehr die Weltwirtschaftskrise ab 1929 (Große Depression). Bis dahin basierten die nationalen Volkswirtschaften auf dem Export von Rohstoffen und dem Import von Konsumgütern aus Nordamerika und Europa. Nun hatten sich die terms of trade im Güteraustausch mit den Industrieländern drastisch verschlechtert. Überall sanken die nationalen Sozialprodukte, was zu sozialen Verwerfungen mit teilweise erschreckend harten Lebensbedingungen führte. Daraus ergaben sich seit den 1930er-Jahren zwei auch nach 1945 wirksame Trends:
 
1. Die Große Depression setzte in Lateinamerika einen Prozess der Entfaltung heimischer Industrien in Gang. Er zielte vor allem darauf, eigene Konsumgüter zu produzieren. Sie sollten die Importe aus den etablierten Industrieländern Nordamerikas und Europas substituieren (womit freilich keineswegs gemeint war, die Exportorientierung der Wirtschaft preiszugeben). Dieses neue lateinamerikanische Wachstums- und Entwicklungsmodell (»importsubstituierende Industrialisierung«) führte zur Ausbildung eines neu entstehenden bzw. sich weiter differenzierenden Mittelstands und (in den größeren Staaten) eines zahlenmäßig starken Industrieproletariats sowie subproletarischer Armutsschichten. In bis dahin nicht gekanntem Ausmaß trat der Staat nun als Ordnungsmacht des Wirtschaftsgeschehens auf, der den Ausbau der Infrastruktur forcierte, hohe Schutzzölle erhob, seinen Einfluss auf die Banken verstärkte, Kredite vergab und Unternehmen gründete. Damit ging zugleich der Ausbau der Verwaltung einher.
 
2. Das Vertrauen in die meist noch stimmrechtsbeschränkte Parteiendemokratie nahm spürbar ab. In vielen Ländern Lateinamerikas kam es jetzt zu einem Regierungs- oder Regimewechsel. Neue autoritär-diktatorische Machthaber kehrten sich dabei oft betont gegen die alten Oligarchien — gegen jene Eliteschichten und deren politische Exponenten, die das alte liberale Weltwirtschaftssystem getragen hatten. In den beiden bevölkerungsreichsten Staaten des Subkontinents, Brasilien und Mexiko, setzte sich ein neuer Regimetypus durch. Er war gerichtet gegen einen demokratischen Parteienpluralismus, und die neuen Machthaber schworen die Massen auf populäre sozialrevolutionäre bzw. nationalistische Ziele ein. Sie brachten die Korporationen (Gewerkschaften und andere Massenorganisationen) durch Reorganisation und Neugründungen in ein klientelhaftes Abhängigkeitsverhältnis zur Regierung. Dieser neue populistisch-korporatistische Regimetypus wurde später auch in Argentinien bestimmend — seit den Dreißigerjahren auch in vielen anderen Regionen Lateinamerikas. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise ließen allerdings auch — wie in Chile und Uruguay — eine Festigung demokratischer Strukturen zu.
 
 Lateinamerika und der Zweite Weltkrieg
 
Der Zweite Weltkrieg sollte den Subkontinent nachhaltig beeinträchtigen. Früher oder später mussten alle Länder nach dem Kriegseintritt der USA ihre Neutralitätspolitik aufgeben. Man sah die USA als kommende politische und wirtschaftliche Führungsmacht in der Welt und witterte neue Exportchancen. Da der Krieg fast überall auch innenpolitische Entwicklungen beschleunigte, verschafften sich schließlich fast durchgängig liberale und reformerische Tendenzen Geltung.
 
Gétulio Dornelles Vargas' brasilianisches Regime, das den »Neuen Staat« (Estado Novo) proklamiert hatte und der rechten Spielart des populistisch-korporatistischen Typus zugehörig war, schien sich durch den Beitritt seines Landes zur Anti-Hitler-Koalition 1942 überlebt zu haben. Denn immerhin halfen brasilianische Soldaten an der italienischen Front Seite an Seite mit Verbänden der US-Army den Hitler-Faschismus niederzuringen. Aus den Reihen der Streitkräfte und der Intelligenz wurde jetzt eine Demokratisierung des Landes gefordert. Vargas selbst vollzog schließlich mit der neuen Verfassung von 1946 den Übergang zur Demokratie.
 
Für Argentinien hatten die USA während des Kriegs einen Lieferboykott verhängt. Er verstärkte den hier tief verwurzelten Antiamerikanismus und führte 1943 zu einem Militärputsch. Die neue Junta, getragen von achsenfreundlichen und nationalistischen Kreisen des Offizierskorps, begann eine Kampagne gegen die vermeintliche »Zersetzung« der Gesellschaft und ließ alle politischen Parteien verbieten. Als neuer Arbeitsminister profilierte sich Juan Domingo Perón, der mit einem Paket staatlich verordneter Sozialleistungen die Massen positiv einstimmte und der Junta damit den Machterhalt sicherte. Die sich abzeichnende Niederlage der Achsenmächte zeigte allerdings auch hier ihre Wirkung: Die Junta kam als »letzte Bastion des Faschismus« in Verruf und war im In- und Ausland isoliert. Das stärkte die argentinische Opposition, die inzwischen auch aus Kreisen der Industrie Unterstützung erfuhr. In dieser Krisensituation entmachtete das Regime den Minister im Oktober 1945 und ließ ihn gefangen setzen. Doch Aufmärsche seiner Klientel erzwangen kurz darauf seine Rückkehr in die Regierung. Seine Anhänger gründeten nun die Arbeiterpartei (Partido Laborista), die ihren Kandidaten Perón bei den freien Präsidentschaftswahlen im Februar 1946 zu einem überwältigenden Sieg trug.
 
In allen Ländern Lateinamerikas hatte der Zweite Weltkrieg die Exporterlöse drastisch reduziert. Nach Kriegsende gab es in Europa einen enormen Importbedarf an Nahrungsgütern, auf den sich die argentinische Wirtschaft im großen Stil einließ. Aber ansonsten war Europa mit seinem eigenen Wiederaufbau beschäftigt, der unter der Schirmherrschaft der USA stand, und auch deren Wirtschaft zeigte sich zunächst wenig interessiert, in Lateinamerika Neuinvestitionen zu tätigen. Nun wurde es geradezu zur Doktrin, dass die lateinamerikanischen Länder forciert ihre eigene Industrialisierung in Angriff nehmen müssten. Die Chefideologen dieser Doktrin besaßen ihren institutionellen Rückhalt in der 1948 als Unterorganisation der UNO gegründeten Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL). Machtvoll setzte die Industrialisierung in den Fünfzigerjahren ein und konnte bis zur großen Schuldenkrise der Achtzigerjahre mehr oder weniger ungebremst fortgesetzt werden, allerdings von temporären Stagnationsphasen unterbrochen.
 
 Hauptakzente der 1950er-Jahre
 
Der Peronismus in Argentinien
 
Als Perón durch die freien Wahlen von 1946 legal zur Macht gelangt war, ließ es sich für ihn komfortabel regieren: Die argentinische Wirtschaft boomte, was einen weiteren Ausbau der industriellen Kapazitäten zuließ und deren schnelle Auslastung nach sich zog. In konsequenter Weiterentwicklung seiner Politik aus der Zeit vor 1946 wurde nun den Belangen der Unterschichten nachdrücklich Rechnung getragen. Möglich war diese Politik, weil Perón seine breite Anhängerschaft reorganisierte und ihr mit dem Partido Peronista eine neue Plattform gab. Diese neue Partei schwor er ganz auf seine Person ein. Ferner nahm er den Gewerkschaften ihre Unabhängigkeit und verfügte eine weitgehende Gleichschaltung der Presse. Als zentrale Stütze seine Regimes erwies sich zudem seine Frau María Eva Duarte de Perón, genannt Evita, die sich rastlos für die Belange der Ärmsten und Benachteiligten verzehrte. Nach ihrem frühen Krebstod (1952) wurde sie geradezu als Heilige verehrt.
 
Um das Jahr 1950 verschlechterten sich in Argentinien die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Jetzt nahm die Herrschaft Peróns totalitäre Züge an: Mittels staatlich gelenkter Propaganda wurde ein fast grotesker Personenkult um seine Person geschürt und die peronistische »Weltanschauung« von Staats wegen dekretiert. Perón ließ den »internen Kriegszustand« verhängen und schaltete die zentralen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände gleich. Auch war er bemüht, sich das Militär gefügig zu machen — vergeblich, in den Führungsstäben begann es inzwischen zu gären. Als der Diktator sich auch noch mit der katholischen Kirche anzulegen begann, rebellierten Teile der Armee und zwangen ihn 1955 zur Aufgabe. Der Peronismus war nun entmachtet, blieb aber auch weiterhin eine bestimmende Kraft der argentinischen Innenpolitik und sollte seinem Exponenten 1973 noch einmal zur Macht verhelfen.
 
Boliviens sozialrevolutionäre Zäsur
 
Lateinamerika erlebte im 20. Jahrhundert nicht viele sozialrevolutionäre Regime, die sich dauerhaft etablieren konnten. Die durch die bolivianische Revolution von 1952 und durch die kubanische von 1959 an die Macht gekommenen gehören dazu. In Bolivien konnten sich die Machthaber der Nationalrevolutionären Bewegung (Movimiento Nacionalista Revolucionario, MNR) über zwölf Jahre halten. Sie gewährten den Indios die vollen Bürgerrechte, entmachteten die Großgrundbesitzer und enteigneten die Zinnbarone. Zusätzlich verstärkten sie die Rolle der Verwaltung in ihrer Aufgabe als Lenkungsorgan der Wirtschaft. Bei alldem galt es, die einseitige Ausrichtung auf den Zinnexport zu korrigieren. Die seit 1964 nachfolgenden autoritär-repressiven Militärregime Boliviens erklärten sich den Zielen der Revolution von 1952 gleichfalls verpflichtet und ließen die meisten Bestandteile des Reformwerks unangetastet. Aber letztlich bekamen sie angesichts von Korruption, Ineffizienz der Verwaltung und Fehlsteuerungen in der Wirtschaftspolitik die Probleme ebenso wenig wie die Revolutionsregierungen in den Griff.
 
Guatemala — Das Interventionsmodell der USA
 
Zwischen der bolivianischen Revolution zu Beginn der Dekade und der kubanischen an deren Ende fiel ein besonderer Einschnitt: In Guatemala, einem Land mit schreiend ungerechten Besitzverhältnissen an Grund und Boden, steuerte Präsident Jacobo Arbenz Guzmán (1951—54) einen radikalreformerischen Kurs, der auf eine gerechte Verteilung des Bodens zielte. Im Juni 1952 verabschiedete das Parlament ein Dekret zur Enteignung und Umverteilung des Besitzes auf dem Lande. Davon begünstigt wurden rund 100000 Familien. Da das Gesetz die Interessen der heimischen Großgrundbesitzer und der United Fruit Company berührte, war die Regierung innen- wie außenpolitisch bald schwersten Anwürfen ausgesetzt. Washington verwahrte sich gegen »kommunistische Umverteilungspolitik« und finanzierte eine Interventionsarmee, die den Sturz des Präsidenten herbeiführte und die alten Verhältnisse wiederherstellte. In der ersten Hochphase des Kalten Kriegs hatten die USA so für ihre künftigen Regierungen den Weg zum Erfolg gegenüber missliebigen Regimen gewiesen. Die Einwirkung war direkt, offen und gewaltsam. Die USA sollten ihn in der Folge noch mehrfach erproben. Von diesem Schlag konnte sich Guatemala jahrzehntelang nicht mehr erholen. Fortan hatten hier die Streitkräfte das Sagen.
 
 Die Militärdiktatur der 1960er- und 1970er-Jahre
 
In den Sechzigerjahren hatten sich die hoch gesteckten Ziele der Regierungen, ihre Länder an das Entwicklungsniveau der Ersten Welt heranzuführen, als Fehlschlag erwiesen. Nicht ohne Irritation blickte man auf diese wie auch auf die kommunistische Welt. Beide Staatenkonstellationen konnten ein kräftiges Wachstum vorweisen, zeigten Selbstbewusstsein und setzten dieses mit neuer Tatkraft um — auf den Weltmärkten und in der Weltpolitik.
 
Das epochale Ereignis der kubanischen Revolution entfachte in Lateinamerika kontroverse Diskussionen über Plan- und Marktwirtschaft, warf die Frage nach der inneren und äußeren Sicherheit neu auf und thematisierte die ungelösten Probleme der Agrarreform. Inspiriert von der kubanischen Guerilla machten in mehreren Ländern Lateinamerikas nun auch kleine, zum bewaffneten Kampf entschlossene Gruppen auf sich aufmerksam.
 
Als Reaktion auf den Sieg Fidel Castros in Kuba bot Präsident John F. Kennedy den lateinamerikanischen Ländern eine Allianz für den Fortschritt (Alliance for Progress) an, ein Hilfsprogramm zur wirtschaftlichen Belebung und Stärkung demokratischer Strukturen. Ursprünglich auf 20 Milliarden Dollar angesetzt, sollte es die Länder auch zur Agrarreform und effektiveren Besteuerung hoher Einkommen anspornen. Doch tatsächlich bewirkte das Hilfsprogramm nur wenig, intensivierte aber folgenreich die bilateralen Kontakte mit den USA, und zwar auf Regierungs- und Verwaltungsebene sowie zwischen den Streitkräften. Was von Kennedy ursprünglich als Stärkung demokratischer Strukturen gedacht war, reduzierte sich am Ende weitgehend auf das gemeinsame Interesse an der Abwehr revolutionärer Bewegungen. Diese neue Solidarität stärkte das Selbstbewusstsein der nationalen Streitkräfte ganz ungemein. Zusehends reklamierten die Militärs eine Universalkompetenz zur Lösung aller »nationalen Probleme« und putschten sich schließlich an die Macht. Dieser neue Typus der Militärherrschaft bestimmte nun lang anhaltend die Geschicke in Brasilien (1964—85), Peru (1968—80) und Uruguay (1973—85) — am kürzesten in Argentinien (1976—83) und am längsten in Chile (1973—90).
 
Der blutige Militärputsch in Chile
 
Am 11. September 1973 kam es in Chile zu einem Putsch gegen Salvador Allende Gossens, den ersten aus freien Präsidentschaftswahlen hervorgegangenen marxistischen Staatschef der Welt. Angeführt wurde der Putsch von General Augusto Pinochet Ugarte. Die neuen Machthaber gingen mit einer weltweites Aufsehen erregenden Brutalität vor: Nach organisierten Hatzen trieb man die Anhänger Allendes zu Tausenden im Nationalstadion von Santiago zusammen, und es kam in der Folge zu Massenerschießungen, Scheinhinrichtungen sowie systematischer Folter.
 
Immer wieder ist gefragt worden, warum Allende scheiterte und seine Entmachtung in derartiger Brutalität erfolgte — in einem Land mit ausgeprägt demokratischen Traditionen. Das Linksbündnis (Unidad Popular), die Machtbasis des Präsidenten, war eine Koalition aus sechs verschiedenen Parteien, von denen jede eine eigene Strategie verfolgte. Da ein Zusammengehen mit den Christdemokraten nicht zustande kam, verfügte Allende über keine parlamentarische Mehrheit. Seinem umfassenden Sozialisierungsprogramm fehlte so die demokratische Legitimität. Gravierende wirtschaftliche Probleme und bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen rechts- und linksradikalen Gruppen taten ein Übriges. Die neuen Machthaber mit Pinochet an der Spitze setzten mittels Ausnahmerecht ihre Ziele durch: Abschaffung der demokratischen Institutionen, Zerschlagung der Linken im Interesse der »nationalen Sicherheit« und kapitalistische Neuordnung der Wirtschaft.
 
 Regionale Sonderentwicklungen — Mexiko und Kuba
 
Mexiko und Kuba weisen in vieler Hinsicht eine politische Sonderentwicklung auf. Beide Regime führen ihre Legitimität auf eine erfolgreiche Revolution zurück, und beide Länder standen in einer gewissen Regimeverwandtschaft: Nach der kubanischen Revolution leitete Mexiko eine »progressive« Außenpolitik gegenüber Kuba ein und schwang sich, es Kuba darin gleichtuend, zum Fürsprecher der Dritten Welt auf. Zudem verfolgte Mexiko einen eigenständigeren Kurs gegenüber den USA, der bis in die Präsidentschaft von Jóse López Portillo y Pacheco (1976—82) durchgehalten wurde. Danach trennten sich die Wege beider Staaten wieder.
 
Mexiko — Die »institutionalisierte Revolution«
 
Das Regime der Dreißigerjahre unter Lázaro Cárdenas stützte sich auf die 1929 gegründete Revolutionspartei, die die uneingelösten Ziele der mexikanischen Revolution aus dem 2. Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verwirklichen wollte. Diese Partei gab sich 1946 den Namen Partido Revolucionario Institucional (Institutionalisierte Revolutionspartei, PRI) und behauptete fortan unangefochten die politische Vorherrschaft. In ununterbrochener Folge stellte der PRI bis heute alle Staatspräsidenten.
 
Die Hegemonialstellung des PRI verlieh Mexiko auf lange Dauer eine bemerkenswerte politische Stabilität. Die Staatspartei profitierte dabei von dem hohen Symbolwert der mexikanischen Revolution. Dieser Tatbestand erlaubte dauerhaft die staatliche Interessenkanalisierung und Kontrolle aller wesentlichen gesellschaftlichen Verbände und Gruppen durch den PRI. Das System war keineswegs diktatorisch, aber auch nicht offen-plural im Sinne einer parlamentarischen Demokratie. Lange Zeit blieben die Machthaber unangefochten, weil die Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg hohe Wachstumsraten zu verzeichnen hatte. Diese wurden mithilfe protektionistischer Maßnahmen erzielt, die eine forcierte Industrialisierung des Landes in Gang setzten. Die Regierungen konnten auch in sozialer Hinsicht beachtliche Erfolge erzielen.
 
Die Schwächen des mexikanischen Systems äußerten sich in einer hohen Anfälligkeit für politische Repression und Manipulationen, wenn das Regime seinen Machtanspruch gefährdet sah. So wurden beispielsweise im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1968 in Tlatelolco (Mexiko-Stadt) bei schweren Studentenunruhen Hunderte von Demonstranten niedergeschossen (»Massaker von Tlatelolco«). Bei den Präsidentschaftswahlen von 1988 kam es zu dubiosen, die Öffentlichkeit jahrelang erregenden Manipulationen.
 
Doch das zentrale Ereignis der jüngsten Geschichte des Landes ist der Ausbruch der großen Schuldenkrise zu Anfang der Achtzigerjahre, die die Regierung zur Abkehr von der traditionellen Sozialpolitik zwang. Zwischen 1982 und 1990 sahen sich die Mexikaner einem Reallohnverlust von 50 Prozent ausgesetzt. Solche Einbrüche förderten aber auch die Politisierung und Demokratisierung, insbesondere der Oppositionskräfte außerhalb des PRI. Heute gelten diese Parteien als chancengleiche Mitbewerber um die politische Macht.
 
Die kubanische Revolution
 
Kuba am Vorabend der Revolution von 1959 — das war ein Land mit harten Lebensbedingungen für die Schnitter des Zuckerrohrs, mit Slums in den großen Städten und Korruption in den Ämtern, aber es war auch ein Urlaubsparadies für wohlhabende Nordamerikaner, die mit ihrem Geld die Taschen einer dünnen Besitzerschicht füllten. Dies zu ändern und das Gewaltregime von Fulgencio Batista y Zaldivar zu stürzen war das erklärte Ziel einer Hand voll Guerilleros. Sie hatten sich 1956 im unwegsamen Bergland der Insel festgesetzt, gewannen nach zähem Kleinkrieg schließlich eine breite Unterstützung und zogen unter Führung des jungen Rechtsanwalts Fidel Castro Ruz zu Jahresbeginn 1959 siegreich in die Hauptstadt Havanna ein.
 
Die umfassenden Enteignungen der neuen Revolutionsregierung betrafen auch die auf der Zuckerinsel in großer Zahl präsenten Land- und Kapitaleigner aus den USA. Das alarmierte die amerikanische Regierung, die eine Embargo- und Sanktionspolitik gegen Kuba einleitete. Ein von der CIA geplanter, von der Regierung unterstützter und von Exilkubanern durchgeführter Invasionsversuch an der Südküste Kubas (»Schweinebucht«) scheiterte im April 1961 kläglich. Ziel der Aktion war der Sturz Castros, der seine Herrschaft jetzt sogar festigen konnte. Da Kuba in der Sowjetunion inzwischen einen mächtigen Verbündeten gefunden hatte, tobte der Kalte Krieg nun vor der »Haustür« der USA. Er gipfelte in der Kubakrise von 1962, die durch die unmittelbare Konfrontation der beiden Supermächte die Gefahr eines Dritten Weltkriegs heraufbeschwor.
 
Kuba war zu einem Zankapfel des Kalten Kriegs geworden. Das Überleben des Regimes lag somit dauerhaft im Interesse der UdSSR. Mithilfe günstiger sowjetischer Kredite, Öllieferungen unter Weltmarktpreisen, einer Abnahmegarantie für den kubanischen Zucker sowie anderer Handelsbegünstigungen modernisierte Castro sein Land; vor allem baute er ein als vorbildlich eingestuftes Bildungs- und Sozialsystem auf und beseitigte die Arbeitslosigkeit. Der Líder Máximo (»Höchster Führer«), von charismatischer Ausstrahlung, die die Kluft zwischen bürokratischer Führung und Volk überbrücken half, propagierte den Aufbau des Sozialismus und Kommunismus. Seine Aufrufe an die revolutionäre Linke des Subkontinents, eine Guerilla nach kubanischem Vorbild zu entfachen, erwiesen sich jedoch als Fehlschlag. Kuba selbst stürzte 1970 in eine schwere Krise der Wirtschaft und des politischen Vertrauens. Jahre neuen Experimentierens folgten — in den Siebzigerjahren übernahm Castro in Wirtschaft und Politik das sowjetische System. Mit dem Ende des Kalten Kriegs verlor Kuba seine wichtigsten Handelspartner und ist heute den harten Bedingungen des Weltmarkts ausgesetzt.
 
 Lateinamerika in den 1980er- und 1990er-Jahren
 
Die Ablösung der Militärdiktaturen
 
In den Achtzigerjahren befanden sich die lateinamerikanischen Militärs auf dem Rückzug. Vor allem in Argentinien war die Bilanz der Militärs erschreckend: Die Generäle ruinierten die Wirtschaft, zettelten im Zusammenwirken mit paramilitärischen »Todesschwadronen« einen schmutzigen Krieg gegen Guerillaeinheiten an, der in der Ermordung von schätzungsweise 10000 bis 20000 argentinischen Bürgern gipfelte. Mit ihrer spektakulären Besetzung der Falklandinseln (1982) stürzten sie das Land in einen Krieg gegen Großbritannien, scheiterten aber kläglich und waren danach politisch und moralisch am Ende.
 
Insgesamt hatte der schleichende Autoritätsverlust der Militärmachthaber vor allem damit zu tun, dass sich in breiten Teilen der Bevölkerung eine positivere Einschätzung gegenüber demokratisch legitimierten Regierungen durchsetzte. Unter dem Schirm der katholischen Kirche machten vielerlei Selbsthilfe- und Menschenrechtsorganisationen, Komitees für freie Wahlen und ähnliche private Initiativen auf sich aufmerksam. Sie sprachen Themen wie Folter, Kerkerhaft, Armut sowie die Entrechtung ethnischer Randgruppen an und trugen ihre Belange in die Öffentlichkeit. Weltweites Aufsehen erregte der Aufschrei der argentinischen »Mütter der Plaza del Mayo«, die schon während der Diktatur Anklage gegen das spurlose Verschwinden ihrer Söhne erhoben. Solche Gruppierungen handelten auch politisch, denn sie taten sich oftmals zusammen mit Vertretern der klassischen Opposition — den unabhängigen Gewerkschaften und demokratischen Parteien. So kam es zu großen Massenkundgebungen, die zum Beispiel in den Achtzigerjahren in Brasilien und Chile den Charakter einer regelrechten Volksbewegung annahmen.
 
Doch kein Volksaufstand brachte die Militärs zu Fall. Ihr Rückzug in die Kasernen war meist ausgehandelt und zog freie Wahlen nach sich. Als sich in Chile der Christdemokrat Patricio Aylwin Azócar gegen einen Kandidaten der Militärs durchsetzte und am 11. März 1990 in den Präsidentenpalast einzog, war der Prozess der Ablösung der Militärdiktaturen im Wesentlichen abgeschlossen, jedenfalls in den größeren Ländern Lateinamerikas.
 
Neue ökonomische und politische Herausforderungen
 
Dieser politische Wandel darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es unter einer bereinigten Oberfläche neu brodelte. Anfang der Achtzigerjahre erfasste die lateinamerikanischen Länder eine große Schuldenkrise. Das in den Siebzigerjahren niedrige Zinsniveau auf den internationalen Kapitalmärkten hatte die Auslandsverschuldung in die Höhe getrieben. Als die Zinsen später kräftig anzogen, kamen die Regierungen in Zahlungsschwierigkeiten. Zur Begleichung der Schulden mussten Exportüberschüsse in erheblichem Umfang erwirtschaftet werden. Viele Länder erklärten sich zahlungsunfähig: In Mexiko zum Beispiel stellte Präsident López Portillo im August 1982 den Schuldendienst ein. Die meisten Regierungen reagierten auf die Schuldenkrise mit rigorosen Sparprogrammen. Die Schuldenkrise markiert einen tiefen Einschnitt in der Geschichte Lateinamerikas, denn die Sanierungskonzepte erzwangen die Abkehr von der lateinamerikanischen Entwicklungsstrategie der Importsubstitution zugunsten einer stärker exportorientierten Einbindung in den Weltmarkt. Das führte nach Jahren schwerer Einbrüche zu einer gewissen Gesundung der Volkswirtschaften und in manchen Ländern zu neuen beachtlichen Wachstumsraten. Aber der Sozialabbau, eine der schnellen Antworten der Regierungen auf die Schuldenkrise, senkte den Lebensstandard der Bevölkerung.
 
Die Stimme der Guerilleros war in den Achtzigerjahren nicht verstummt. Sie erhob sich noch in vielen lateinamerikanischen Ländern, auch in den zentralamerikanischen Staaten Honduras, El Salvador, Guatemala und Nicaragua. In dem letztgenannten Land war es 1979 der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (Frente Sandinista de Liberación Nacional, FSLN) mit breiter Unterstützung gelungen, die Macht zu erobern. Die Revolutionäre gaben sich gemäßigt-reformistisch und erlagen nicht der Versuchung, eine Diktatur zu errichten. Doch eine Demokratie nach westlichem Vorbild konnte man die neue Gesellschaftsordnung auch nicht nennen.
 
Den USA war das Regime ein Dorn im Auge; sie fürchteten, die gesamte Region könne sich destabilisieren. Deshalb entschlossen sie sich zu massiver Wirtschafts- und Militärhilfe für die antisandinistischen Contras, die ihre Basen in Honduras und Costa Rica hatten. Solcher Hilfen durften sich auch die korrupten nicaraguanischen Nachbarstaaten erfreuen, in denen Guerillaeinheiten den Regimen in unterschiedlicher Schärfe zusetzten. Allerdings verband die Regierung Reagan diese Hilfen mit der deutlichen Aufforderung an die dortigen Machthaber, demokratische Wahlen abzuhalten und die Menschenrechte einzuhalten. So leitete Washington absichtsvoll die Aufrüstung einer ganzen Region ein. Jahrelang tobten nun schwere Kämpfe, und Flüchtlingsströme überzogen grenzüberschreitend den zentralamerikanischen Isthmus. Am Ende stand eine bedrückende Bilanz: 200000 überwiegend zivile Kriegsopfer, zwei bis drei Millionen Flüchtlinge, dazu die verheerenden Folgeschäden für Wirtschaft und Infrastruktur.
 
Die Regierung Reagan stufte die Revolutionäre als Kommunisten ein, und ein »zweites Kuba« kam für sie nicht infrage. Tatsächlich erhielt das sandinistische Regime in der Folge der Eskalation massive Militärhilfe seitens der Sowjetunion. Bemühungen vieler Regierungen der 1948 innerhalb der UNO gegründeten OAS (Organization of American States) und auch westeuropäischer Länder, Zentralamerika aus dem Ost-West-Konflikt herauszuhalten, fruchteten zunächst nicht. Erst als dieser sich aufzulösen begann, war George Bush, seit 1989 Reagans Nachfolger im Amt, bereit, die Unterstützung der Contra-Rebellen einzustellen. Seine Bedingung lautete: Freie Wahlen unter internationaler Aufsicht. UNO und OAS entsandten eine unabhängige Beobachtergruppe. Aus den Wahlen 1990 ging zur Überraschung aller Violeta Barrios de Chamorro, die Kandidatin der nicaraguanischen Opposition, als Siegerin gegen den Staatschef Daniel Ortega Saavedra hervor.
 
Lateinamerika wächst zusammen
 
In Nicaragua war der entscheidende Schritt für einen Friedens- und Versöhnungsprozess damit getan. In den Neunzigerjahren legten auch die Guerilleros in El Salvador und Guatemala die Waffen nieder. Die Wahlbeobachtung in Nicaragua sollte Schule machen und hat danach auch anderswo auf dem Subkontinent zur Entspannung bzw. Demokratisierung beigetragen. Die Instrumente der Interventionspolitik durch die OAS, UNO und andere Zusammenschlüsse konnten inzwischen durch gezielte Sanktions- und Embargomaßnahmen verfeinert werden — ein Hoffnungsschimmer für die Zukunft. Auch ökonomisch sind neue Zeiten angebrochen: Die neue Ausrichtung der nationalen Volkswirtschaften, angestoßen durch das Bemühen zur Überwindung der Schuldenkrise zu Beginn der Achtzigerjahre, führte in den Neunzigerjahren zur Bildung wirtschaftlicher Großräume. Im Jahre 1994 trat das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA (North American Free-Trade Agreement) in Kraft, das für die USA, Kanada und Mexiko einen gemeinsamen Wirtschaftsraum schafft. Und schon 1991 hatten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay das ehrgeizige Projekt Gemeinsamer Markt im Südlichen Lateinamerika (Mercado Común del Cono Sur, Mercosur) beschlossen. Es zielt auf die schrittweise Integration der nationalen Volkswirtschaften. Vielleicht beschreiten die Länder Lateinamerikas nun einen Weg, der sie befähigt, den kommenden nationalen, kontinentalen und globalen Problemen wirksam begegnen zu können.
 
Dr. habil. Jochen Gaile
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Lateinamerika: Zwischen Reform und Diktatur
 
 
Bulmer-Thomas, Victor: The economic history of Latin America since independence. Neudruck Cambridge u. a. 1995.
 
The Cambridge history of Latin America, herausgegeben von Leslie Bethell. Auf mehrere Bände berechnet. Cambridge u. a. 1984 ff., teilweise Nachdruck.
 Halpern Donghi, Tulio: Geschichte Lateinamerikas von der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart. Aus dem Spanischen. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 1994.
 
Handbuch der Dritten Welt, herausgegeben von Dieter Nohlen und Franz Nuscheler. Band 3: Mittelamerika und Karibik. Bonn 31992.
 
Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, herausgegeben von Walther L. Bernecker u. a. 3 Bände. Stuttgart 1992-96.
 
Der lange Kampf Lateinamerikas. Texte und Dokumente von Jos Mart bis Salvador Allende, herausgegeben von Angel Rama. Frankfurt am Main 21984.
 
Lateinamerika am Ende des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Detlef Junker u. a. München 1994.
 
Lateinamerika-Jahrbuch, herausgegeben vom Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg. Jahrgang 1 ff. Frankfurt am Main 1992 ff.
 
Pipers Wörterbuch zur Politik. herausgegeben von Dieter Nohlen. Band 6: Dritte Welt. München u. a. 1987.
 Tobler, Hans Werner: Die mexikanische Revolution. Gesellschaftlicher Wandel und politischer Umbruch. 1876-1940. Frankfurt am Main 1992.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Lateinamerika: Zwischen Reform und Diktatur —   Abhängigkeit von Europa und den USA   Nach den zahlreichen Bürgerkriegen und Putschversuchen, die Lateinamerika im ersten halben Jahrhundert seiner Unabhängigkeit heimgesucht hatten, stabilisierte sich die innenpolitische Situation seit den… …   Universal-Lexikon

  • Bolivien — Bo|li|vi|en; s: Staat in Südamerika. * * * Bolivi|en,     Kurzinformation:   Fläche: 1 098 581 km2   Einwohner: (2000) 8,3 Mio.   Hauptstadt: Sucre   Regierungssitz …   Universal-Lexikon

  • Argentinien — Argentinische Konföderation (veraltet); Argentinische Republik * * * Ar|gen|ti|ni|en; s: Staat in Südamerika. * * * Argentini|en,     Kurzinformation:   Fläche: 2,78 Mio. km2   Einwohner: ( …   Universal-Lexikon

  • Mexiko — 1Mẹ|xi|ko; s: Staat in Mittelamerika. 2Mẹ|xi|ko: Mexiko Stadt. * * * I Mẹxiko,     Kurzinformation:   Fläche: 1 964 375 km2   …   Universal-Lexikon

  • Chile — Chi|le [ t̮ʃi:le , auch: çi:le ]; s: Staat in Südamerika. * * * Chile     Kurzinformation:   Fläche: 756 096 km2   Einwohner: (2000) 15,2 Mio.   Hauptstadt: Santiago   Amtssprache: Spanisch   …   Universal-Lexikon

  • Guatemala — Gu|a|te|ma|la; s: Staat in Mittelamerika. * * * Guatemala,     Kurzinformation:   Fläche: 108 889 km2   Einwohner: (2000)11,4 Mio.   Hauptstadt: Guatemala   Amtssprache …   Universal-Lexikon

  • Peronisten — Peronịsten,   Anhänger des früheren argentinischen Staatspräsidenten J. D. Perón, der die drei Parteien, die ihn bei den Wahlen 1946 unterstützt hatten, u. a. der im November 1945 gegründete Partido Laborista, im Partido Peronista 1946… …   Universal-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”